Aus aktuellem Anlass

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in dem sich fast jährlich mein Leben und meine Lebensperspektiven änderten. Wohnortwechsel und ein immer neuer Ausbildungsstatus sorgten in meiner Jugend für ständige Abwechslung. Es folgte, im Pfarramt, eine Zeit großer Stetigkeit, die vom Wechsel der Jahreszeiten geprägt war. Kirche und Familie, Weihnachten und große Ferien, Konfirmationen und regelmäßige Gottesdienste sorgten für ein recht verlässliches Leben. Zehn Jahre leitete ich den Kirchenvorstand, zehn Jahre stand die spirituelle Arbeit im Vordergrund.

Und dann kam der Krebs, und nun wechselten die Perspektiven fast monatlich. Das Leben nahm noch einmal richtig Fahrt auf.

Und das gilt erst recht für die letzte Woche. Praktisch wurden wir an jedem Tag vor neue Herausforderungen gestellt.

Noch am Mittwoch letzter Woche befinde ich mich in einer sehr aufreibenden Chemo. Körper und Beine werden immer schwächer. Wir führen ein Gespräch mit der „SAPV“ – der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung über Möglichkeiten, im Ernstfall zuhause versorgt zu werden.

In der Nacht zum Donnerstag nehmen wir den Service der SAPV gleich in Anspruch und lassen uns zum UKE fahren. Das MRT bestätigt meinen Verdacht: Die Schwäche in den Beinen kommt nicht von der Chemo. Eine Metastase drückt gefährlich auf das Rückenmark. Am Freitag werde ich operiert.

Den Sonnabend verbringe ich auf der Intensivstation. Das linke Bein ist anfangs völlig bewegungsunfähig. Und es ist – und ist nach wie vor – unklar, ob ich wieder werde gehen können.

Am Sonntagabend wechsle ich auf die Station der Wirbelsäulenchirurgie. Meine Stimme versagt mir den Dienst, mit dem Atem habe ich große Schwierigkeiten.

Der Montag beginnt chaotisch und bleibt es. Mittags gibt es unterschiedliche Informationen zum Entlassungstermin. Wir werden unruhig, weil die häusliche Versorgung trotz SAPV ungeklärt ist. Der Arzt kommt und stellt klar, dass eine Entlassung erst in der nächsten Woche und nach Klärung durch den Sozialdienst des UKE erfolgen wird. Noch während seiner Anwesenheit erscheint eine Mitarbeiterin des SD und beginnt mit der Organisation von Hilfsmitteln für die häusliche Versorgung. Das Gespräch wird durch eine temperamentvolle Ärztin aus der Palliativversorgung unterbrochen, die den Vorschlag macht, auf ihre Station zu wechseln. Dies wäre möglich, da doch die onkologischen Therapiemöglichkeiten weitgehend ausgereizt seien.

Wir sind sehr verwirrt. Von diesem Angebot hören wir zum ersten Mal. Es scheint attraktiv zu sein. Wir nehmen es an, und eine halbe Stunde später liege ich auf der Palliativstation des UKE. Zum ersten Mal an diesem Tag kehrt Ruhe ein.

Noch haben unsere Seelen mit all den Wirrungen und Wendungen nicht Schritt halten können. Keine Frage: Die Ruhe und die Betreuung auf dieser Station tun mir wohl. Andererseits sind die weiteren Schritte und Aussichten bestenfalls ungeklärt.

Die Hoffnungssätze eines Fulbert Steffensky werden noch einmal ganz neu mit Inhalt gefüllt. Hoffen heißt „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“. Dazu denken wir an Psalm 90,12: „Jeder Tag zählt.“

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Beitragsbild: Mein „Ausblick“ auf dem Zimmer der Palliativstation.  © Erik Thiesen

13 Gedanken zu “Aus aktuellem Anlass

  1. Ute Klingwort-Finster schreibt:

    Und das müssen Kopf, Herz und Seele alles aushalten. Ihr wisst, dass euch ein großes unsichtbares Netz trägt…

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  2. Ingelor Schmidt schreibt:

    Lieber Erik, wir denken mit großer Wärme an Dich und wünschen Dir Erholung und Ruhe nach all den Anstrengungen.
    Ingelor & Wolfgang

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  3. gebrocheneslicht schreibt:

    Heute meinte eine Schwester, dass ich einen starken Willen hätte. Ich bin immer offen für Komplimente, aber das stimmt so nicht ganz. Sicher, ohne eigenen Willen ginge es auch nicht. Die Stärke kommt aber nicht aus mir, sondern aus unserer Gemeinschaft – das große unsichtbare Netz, das uns – uns alle – trägt.

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  4. Waltraud Habicht schreibt:

    Lieber Erik, ich war gerade in einem kleinen Gottesdienst hier in der Rehaklinik und habe die Gelegenheit genutzt, Fürbitte für Dich zu halten. Zurückkommend und dies lesend wiederhole ich die Fürbitte und sende Dir gute Wünsche.

    Möge das Netz der Gemeinsamkeit Deine Stärke weiter tragen und halten!

    Herzlich Waltraud

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  5. Gudrun Kühn-Hoppe schreibt:

    Lieber Erik,
    ich wünsche dir eine ruhige Nacht, die Kraft bringt, den nächsten Tag zu beginnen.
    Liebe Grüße von Gudrun

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  6. Claus Schoop schreibt:

    Lieber Herr Thiesen,
    vielen Dank * für Ihre Sicht auf die Welt, * den vermittelten Optimismus, * Ihre Zugewandheit zum Leben.
    In Gedanken bin ich oftmals bei Ihnen.
    Herzliche Grüße; ich wünsche Ihnen Kraft und Wohlergehen.
    Claus

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Lieber Herr Schoop,

      wir bewegen uns im selben Land. Und ich mache täglich die Erfahrung: Es tut gut, voneinander zu wissen, einander zu tragen, sich immer wieder gegenseitig zu sagen: Wir leben. Krebs haben wir auch. Aber wenn wir leben können, wenn uns die Krankheit und ihre Therapie nicht gerade außer Gefecht setzt, dann leben wir auch.

      Liebe Grüße
      Erik

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Lieber Herr Spengler, haben Sie es gemerkt? Mit Ihrem Kommentar haben Sie so etwas wie einen Hochenergie-Stromstoß ins Netzwerk unseres Blogs geschickt – eine Energie, aus der Löwenherzen gemacht werden und die auch ich anzapfe. Ich habe nicht das Gefühl, dass es mein Herz ist, das irgendwelche Leistungen vollbringen könnte. Vielleicht bin ich ein leidlich guter Transformator, beziehe aber meine Kraft ganz wesentlich aus unserer Gemeinschaft. Aus Worten wie den Ihren, die mich sehr berühren und mir wichtig sind.

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      • gebrocheneslicht schreibt:

        Ich glaube, dass es etwas gibt, das nur ich tun kann. Das kann in den Augen der Welt oder unter dem Aspekt des globalen Ganzen völlig unbedeutend sein. Aber es ist entscheidend, für Menschen, für mich und vielleicht sogar für den Fortbestand der Welt, wer weiß? Irgendeinen Stecker ziehen zur rechten Zeit. Irgendein Wort zu sagen.

        Ich finde ja: Hätte Pablo Neruda nichts geleistet und gemacht in seinem Leben als nur die 5 Wörter seiner Autobiographie aneinander zu reihen: Ich bekenne, ich habe gelebt – oder auch nur einen Übersetzer dazu animiert hat – sein Leben hätte sich für mich schon absolut gelohnt. Und wie schön, dass er so viel mehr geleistet hat, aber die Menge ist tatsächlich nicht wichtig.

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